Rachel Gibs beobachtete ihn eine ganze Weile von der Strandbar aus, währen sie an ihrem Cocktail nippte. Ihr Ziel lag auf einer Liege und las. Es war nicht einfach gewesen, ihn ausfindig zu machen, auch wenn die CIA ihn seit Jahren auf dem Schirm hatte, denn Julian Sark verstand es ausgezeichnet, seine Aktivitäten unauffällig zu halten.
Rachel hatte ihre Nachforschungen auf eigene Faust angestellt, ohne ihre Kollegen zu informieren, dass sie nach Sark suchte. Tatsächlich war sie völlig inoffiziell hier in Yucatan und opferte sogar ihren Urlaub. Wenn ihr Vorgesetzter von ihrem Vorhaben erfuhr, bedeutete das eine Menge Ärger für Rachel. Das Risiko wollte sie allerdings eingehen.
Sark legte sein Buch beiseite und nahm einen Schluck seines Drinks. Rachel schluckte bei seinem Anblick. Dass er lediglich mit Badehosen bekleidet war, machte die Sache nicht leichter. Er hatte immer noch den gut gebauten Körper wie damals in Sao Paolo bei ihrer ersten Begegnung vor drei Jahren. Wie sehr hatte sie sich in der Zwischenzeit nach diesem Körper gesehnt. Sie wusste, dass es falsch war hier zu sein. Sie wusste, dass es falsch war, sich nach Julian Sark zu sehnen, aber sie konnte ihre Gefühle nicht abstellen. Sie hatte ihn gesucht, weil sie ihn wiedersehen wollte. Weil sie ihn nicht vergessen konnte.
Aus Nervosität schaute sie immer wieder auf ihr Handy. Die Liegen neben ihm waren frei. Jetzt oder nie. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging zu ihm.
„Ist hier frei?", fragte sie höflich. Ohne auf seine Antwort zu warten, legte sie sich auf die Strandliege neben ihm.
Sark seufzte genervt und stellte seinen Drink beiseite. Er hatte sie sofort erkannt. „Die CIA gönnt mir nicht mal meinen Urlaub", bemerkte er sarkastisch.
Als er sich zu ihr drehte, nahm er seine Sonnenbrille ab. „Unter welchem Decknamen wirst du dich mir diesmal vorstellen, Rachel? Und ich nehme mal an", er ließ seinen Blick kurz über den Strand gleiten, „dass du den Lockvogel spielen darfst, bis deine Leute gleich auftauchen und mich festnehmen."
Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete, wanderte sein Blick über ihren Körper. Sie kannte den Blick, denn sie hatte ihn vor drei Jahren schon mal gesehen. Sie hatte sich bewusst in Szene gesetzt. Sie trug nur einen Bikini und einen luftigen Strandrock, den sie sich locker um die Hüften gewickelt hatte und der nur wenig von ihren langen, schlanken Beinen verbarg. Ihre langen, blonden Haare fielen in einer sanften Welle auf ihre Schulter. Sark gefiel, was er sah, das war offensichtlich.
Rachel lächelte auf seine Bemerkung hin. „Keine Sorge", antwortete sie. „Ich bin nicht im Dienst. Ich bin allein hier und wie es der Zufall so will, bin ich auch im Urlaub. Du hast heute nichts zu befürchten."
„Und wie kommt es, dass wir uns ganz zufällig am selben Ort treffen? Und vermutlich auch noch im selben Hotel wohnen?", fragte Sark.
„Du hast die nebeneinanderliegenden Zimmer vergessen. Die Antwort darauf kennst du doch sicher?"
Rachels Herz pochte bis zum Hals, aber sie versuchte, möglichst entspannt rüberzukommen und sich nichts anmerken zu lassen. Sie spielte ein bisschen mit ihm.
„Du hast mich also gesucht, Rachel?", schlussfolgerte Sark. „Warum sollte so ein anständiges Mädchen wie du so etwas tun? Was sagen denn deine Bosse dazu, dass du dich in deinem Urlaub mit einem gesuchten Verbrecher triffst?"
„Die wissen nicht, dass ich hier bin", sagte Rachel und ihr entging nicht die Wirkung, die ihr Outfit und ihre Freizügigkeit auf ihn hatte. „Die denken, ich erhole mich ein paar Tage in Mexiko."
„Wie hast du mich gefunden?", wollte Sark wissen.
„Ich habe meine Quellen", antwortete Rachel knapp. Tatsächlich hatte sie ein paar CIA-Kontakte nutzen müssen, um Julian Sark zu finden.
„Und verrätst du mir jetzt endlich, warum du mich aufgesucht hast? Du willst doch nicht etwa die Seiten wechseln, oder?"
„Es ist etwas banaler. Eigentlich wollte ich dich nur wiedersehen", sagte Rachel langsam.
„Mich wiedersehen?", fragte Sark verwundert. „Nun ja, das letzte Mal, als wir uns begegnet sind, habe ich dich aus deiner Wohnung entführt."
„Hab ich lebhaft in Erinnerung", entgegnete Rachel, die das Ereignis schnell aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. „Eigentlich wollte ich dich nur sehen und …" Sie ihm nun direkt in die Augen. „... und ich hatte auf eine Wiederholung unserer Nacht ihm Hotel gehofft."
Er war wohl um Worte verlegen, denn er sah sie nur eindringlich an – mit Neugier, Verwunderung und Faszination.
„Sag ja nicht, dass es dir seinerzeit in Sao Paolo nicht gefallen hat. Und du nicht schon öfter daran gedacht hast, mich wiederzusehen."
Er wandte seinen Blick auf das Meer.
„Überleg es dir. Ich bin noch eine Woche im Hotel. Unsere Zimmer liegen direkt nebeneinander."
Rachel stand auf und ging. Auf dem Weg warf sie einen kurzen Blick zurück, um zu sehen, ob er ihr nachsah, dann steuerte sie zielsicher das Hotel an. Es war nicht so schlecht gelaufen, wie sie gedacht hatte. Jetzt hieß es warten.
Drei Jahre waren vergangen, seit sie Julian Sark in Brasilien getroffen und die Nacht mit ihm verbracht hatte. Rachel hatte bis dato nicht viel Erfahrung gehabt, doch selbst bis heute, Jahre später, reichte keine Erfahrung an die Nacht mit Sark heran. Sie hatten verdammt guten Sex gehabt. Wenn die Übertragung, die sie abfangen sollte, nicht früher gekommen wäre, dann wäre sie definitiv noch länger in seinem Zimmer geblieben.
Danach zu erfahren, dass Sark ein gesuchter Verbrecher war, hatte sie in ein völliges Gefühlschaos gestürzt. Sie war wütend gewesen und verletzt. Sie hatte ihm alles Mögliche an den Hals gewünscht und sich zutiefst vor sich selbst geschämt. Sogar angewidert war sie gewesen. Weniger von Sark als vielmehr von sich selbst. Nie wieder hatte sie den Mistkerl sehen wollen. Eine unfreiwillige Begegnung hatten sie gehabt, die Rachels Abneigung Sark gegenüber nur noch verstärkt hatte.
Zuerst war sie froh gewesen, ihn nie wieder zu sehen, doch dann schlich sich immer wieder die tolle Nacht in Sao Paolo in ihre Gedanken und der Wunsch nach einem erneuten Treffen keimte in ihr, bis er schließlich so stark war, dass sie ihn nicht mehr unterdrücken konnte. Ab da hatte sie angefangen, ihn zu suchen. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie musste verrückt sein. Vor allem verrückt nach einem Mann, nach dem sie nicht verrückt sein durfte.
Am Abend saß Rachel an der Hotelbar und gönnte sich einen Cocktail. Um zehn wollte sie schon die Hoffnung aufgeben, doch da gesellte sich tatsächlich Sark zu ihr.
„Ein Glas Chateau bitte", sagte er zu der Frau hinter der Bar.
Nachdem er das Glas erhalten und einen Schluck genommen hatte, wandte er sich Rachel zu. „Das weckt alte Erinnerungen", meinte er. „Genau so haben wir uns damals kennengelernt, nur dass du Lydia Sand warst und ich Bob Brown. Wir hatten keine Ahnung, dass wir für denselben Auftrag in Sao Paolo waren."
„Ja, ich weiß. Die Fachidiotenkonferenz und der freiberufliche Geschäftsmann", gab Rachel zurück.
„Ich muss zugeben, ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, dass du für die CIA arbeitest", meinte Sark. „Wenn ich dich so ansehe, fällt mir das heute noch schwer zu glauben."
„So ging es mir damals auch. Das war mein erster Auslandseinsatz, bei dem ich auf mich allein gestellt war."
„Du arbeitest immer noch für die?", wollte Sark wissen.
„Ja."
„Warum kommst du jetzt nach drei Jahren?"
„Ich war zwei Jahre undercover", erklärte Rachel. „Ich bin jetzt erst wieder ein Dreivierteljahr im regulären Dienst. Da hatte ich dann die Gelegenheit, dich zu suchen."
„Verstehe. Undercover also. Und wo warst du?"
„Europa. Organisiertes Verbrechen."
„Interessant", kommentierte Sark. „Und arbeitest du noch mit Sydney Bristow zusammen?"
„Nein, schon etwas länger nicht mehr. Sie hat vor drei Jahren, naja, nicht direkt aufgehört, aber ihr Arbeitspensum wegen der Familie reduziert. Wir sehen uns nur noch unregelmäßig. Von der alten Truppe sind nur noch Marshall und Dixon übrig. Und was machst du so? Vaugh hat dich damals gehen lassen, oder?."
„Ja, das hat er. Mit einer Kugel im Bein", sagte Sark nachdenklich. „Ich bin unterwegs und mache Geschäfte."
„Ich nehme mal an, dass du auf deine „Geschäfte" nicht näher eingehen wirst. Internationaler Handel mit allem, wofür die Kunden bezahlen?"
„Ganz genau. Auch ein CIA-Agent im Urlaub ist ein CIA-Agent", kommentierte Sark und leerte sein Glas. „Doch wie es der Zufall so will, reduziere auch in mein Arbeitspensum seit einer Weile."
„Bist du nicht etwas jung für den Ruhestand?", fragte Rachel im Scherz und trank den Rest ihres Cocktails.
„Noch bin ich ja im Geschäft, aber sei versichert, dass ich gute Vorkehrungen getroffen habe", sagte Sark. „Willst du noch etwas trinken?", fragte er mit Blick auf ihr leeres Glas. Der höfliche Tonfall seiner Frage und der Blick, mit dem er sie bedachte, verrieten ihr, dass er anderes im Sinn hatte, als noch länger an der Bar sitzen zu bleiben. Genau wie Rachel.
„Nein, danke. Ich würde jetzt gerne nach oben gehen", raunte sie verführerisch.
Diesmal schafften sie es nicht bis vor ihre Zimmer. Sobald sich die Aufzugtüren geschlossen hatte und sie auf dem Weg nach oben waren, konnten sie nicht mehr an sich halten. Sie küssten sich heftig. Sark drückte sie gegen die Aufzugwand. Seine Hände fanden ihren Weg unter ihr Kleid, wo sie ein feuriges Glühen auf ihrer Haut hinterließen. Rachel entfuhr ein Keuchen, Augenblicke später drückte sie ihn gegen die Wand. Genau nach dieser Leidenschaft, dieser verbotenen Leidenschaft, hatte sie gesucht und hatte sie sich seit ihrer letzten Begegnung gesehnt.
„Diesmal gehen wir zu dir", raunte Sark zwischen zwei Küssen gegen ihre Lippen. Rachel hatte keine Einwände.
Ihre heimliche Affäre ging knapp ein Jahr. Sie trafen sich immer dann, wenn sie beruflich an denselben Orten zu tun hatten, hielten aber Arbeit und Privatleben streng getrennt. Sark, das spürte Rachel, genoss die Freiheit und die Unverbindlichkeit. Es war so etwas wie ein stilles Übereinkommen zwischen ihnen, dass wieder Rachel nach Sark ihr intimes Verhältnis für berufliche Vorteile ausnutzte. Es war die Gefahr, aufzufliegen und der Nervenkitzel, die beide in den ersten Monaten so sehr reizten. Und die gemeinsamen Stunden waren einfach umwerfend.
Man konnte es wohl als nächsten Schritt ihrer Beziehung ansehen, als Sark sie zu sich nach Hause auf ein Weingut in der Toskana einlud.
„Es ist wunderschön hier", meinte Rachel beim Anblick der grünen Weinberge. Sie stießen mit einem hervorragenden Wein aus der Gegend an.
„Gehörte meinem verstorbenen Vater", erklärte Sark.
„Dein Zuhause, nach dem die CIA im übrigen schon lange sucht, hast du mir doch nicht ohne Grund gezeigt, oder?"
„Ich denke, unsere Beziehung basiert inzwischen auf so viel Vertrauen, dass ich mir keine Sorgen um dich machen muss", sagte Sark. „Außerdem habe ich die Entscheidung getroffen, mich aus den Geschäften zurückzuziehen."
„Du willst aufhören?", fragte Rachel verwundert. „Du sagtest doch mal, dass das genau das ist, was du gerne machst."
„Alles hat irgendwann einmal ein Ende."
„Die CIA wird dich aber weiter jagen", warf Rachel ein, wobei sie einen Knoten im Magen spürte. Der Gedanke, dass Sark gefasst werden könnte, betrübte sie. Ihre Beziehung wäre dann zu Ende.
„Ich kann mich gut verstecken", entgegnete Sark, der offenbar nicht im Mindesten beunruhigt war.
„Und wenn du noch nicht aufhörst?", sagte Rachel plötzlich und sah ihren Liebhaber an. In Sarks Gesicht stand Verwunderung.
„Wie meinst du das? Dann werden mich deine Leute erst recht weiter jagen."
„Mir kam da gerade ein Gedanke. Was ist, wenn du als Doppelagent für uns arbeitest? Unter der Voraussetzung, dass du nicht in Gefängnis musst. Dann können wir weiter zusammen sein."
Er hörte ihr aufmerksam zu, als sie ihm ihren Plan erläuterte. Er bat um Bedenkzeit und wollte ihr bei ihrem nächsten Treffen seine Antwort mitteilen.
„Um was geht es?", fragte Sydney Dixon, nachdem sich die Runde im Besprechungsraum eingefunden hatte. Sydney, Dixon und Marshall waren Rachels Bitte nach einem Treffen gefolgt. Der neue Leiter ihrer Einheit und ein Außenstellenleiter der CIA, ein hohes Tier aus Langley, waren auch anwesend.
„Agent Gibs bat um diese Unterhaltung, weil sie wichtige Informationen hat", erklärte ihr Teamleiter.
„Welche Informationen?", fragte Sydney. Auch wenn sie sich beinahe völlig aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte, war sie immer mit vollem Einsatz bei der Sache, wenn sie sich im Büro trafen. Rachel wusste, dass sie Sark liebend gern festgenommen hätte.
„Das ist richtig", sagte Rachel.
Als die Runde Rachel erwartungsvoll ansah, überkam sie ein schlechtes Gewissen. Es behagte ihr nicht, ihren Kollegen etwas vorzumachen, aber sie dachte an ihre Beziehung, die sie nicht verlieren wollte, und das machte es etwas einfacher, die Geschichte, die sie und Sark abgesprochen hatten, vorzutragen.
„Also … Als ich vor knapp drei Jahren noch undercover in Europa ermittelt habe, habe ich jemanden kennengelernt, der mir ein paar Mal Informationen zugespielt hat. Ich habe ihn allerdings aus den Augen verloren. Vor kurzem hat er sich wieder bei mir gemeldet."
„Was ist das für ein Typ?", fragte Dixon.
„Ein ziemlich hohes Tier, das Kontakte nach ganz oben hat. In genau die Kreise, hinter denen wir her sind."
„Was hat das zu bedeuten? Warum meldet er sich erst jetzt nach der langen Zeit?", fragte Sydney.
Rachel musste sich zusammenreißen, Sydneys kritischem Blick standzuhalten. Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne und räusperte sich.
„Er wollte schon mal aussteigen, konnte aber damals nicht. Jetzt ist sein Plan konkret. Er will raus aus dem Geschäft und ist bereit, der CIA sein Wissen weiterzugeben. Er bietet an, für uns als Doppelagent zu arbeiten und will uns nach und nach die dicken Fische liefern."
„Da brauchen wir schon ein bisschen mehr, etwas Konkretes, mit dem wir arbeiten können, ehe wir dem zustimmen", entgegnete der Agent aus Langley.
„Er hat damit gerechnet, dass Sie das sagen würden, und mir das hier für Sie mitgegeben, als Beweis, dass er es ernst meint und dass er eine unverzichtbare Quelle ist", sagte Rachel und schob ihrem Team eine Kartonmappe mit Unterlagen zu.
Sydney schlug sie auf. Nachdem sie sie kurz überflogen hatte, reichte sie sie Dixon weiter. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich von skeptisch-misstrauisch zu offen gewandelt.
„Das ist der Ort der geheimen Operationsbasis von Hassan Al-Fahir, dem marokkanischen Waffenhändler", sagte Dixon. „An dem Kerl sind wir seit Monaten dran. Bisher gab es keine Spur von ihm."
„Überprüfen Sie die Angaben", meinte Rachel. „Und dann entscheiden sie."
„Was sind die Bedingungen Ihrer Quelle?", fragte ihr Teamleiter. „Diese Informationen wird er uns ja wohl nicht einfach aus Nächstenliebe mitteilen, oder?"
„Wo ist der Haken?", fügte Sydney hinzu.
„Eigentlich gibt es keinen. Meine Quelle stellt zwei Bedingungen für ihre Kooperation", fuhr Rachel fort. „Mein Informant verlangt nach Beendigung seiner Rolle als Doppelagent Straffreiheit. Wenn er ausgestiegen ist, will er nicht ins Gefängnis."
„Der Klassiker. Und die zweite Forderung?", verlangte Dixon zu erfahren.
„Nur mir ist seine Identität bekannt. Und er möchte auch, dass das so bleibt. Er möchte für die Zeit unserer Zusammenarbeit anonym bleiben."
Ihre Kollegen stöhnten auf. „Das ist völlig unmöglich!"
„Wie soll jemand als verdeckte Quelle für uns arbeiten, wenn wir seine Identität nicht kennen?"
„Auf keinen Fall!"
„Ich weiß, dass das viel verlangt ist", sagte Rachel, „ich bitte einfach nur um etwas Vertrauen. Ich vertraue meiner Quelle. Wenn Sie ihm Straffreiheit garantieren, dann wird er uns helfen. Seine Identität werden Sie zu gegebener Zeit erfahren, wenn er sie selbst preisgibt. Überprüfen wir doch erst mal seinen Hinweis zu Al-Fahir."
Und das taten sie auch. Der CIA gelang nicht nur die Festnahme eines berüchtigten Waffenhändlers, der Terroristen belieferte, sondern auch die Zerschlagung des dahinterstehenden Netzwerkes. Der Direktor entschied schließlich, dass man sich auf die Zusammenarbeit mit der anonymen Quelle einlassen würde. Rachel sollte die Kontaktperson sein.
„Sie haben eingewilligt. In den kommenden zwei Jahren arbeitest du für die CIA als Doppelagent und gibst alles an sie weiter, was du weißt. Dafür musst du nicht ins Gefängnis und wir können zusammen sein."
Sie waren in einem Hotelzimmer in New York.
„Sie haben sich also tatsächlich auf die Bedingungen eingelassen?", fragte Sark und küsste ihre Schulter. Rachel schmiegte sich an ihn.
„Mit Al-Fahir warst du echt überzeugend. Zwei Jahre sind eine überschaubare Zeit. Das kriegen wir hin."
„Und wie geht's mit uns weiter?", fragte Sark. „Ziehst du zu mir in die Toskana?"
„Ich habe einen Job, den ich nicht einfach aufgeben möchte!", protestierte Rachel. „Zieh doch zu mir!", schlug sie nicht ganz ernst gemeint vor. Ihre Wohnung war zu klein. Das Weingut in der Toskana war ein wunderschöner Ort, an dem sie gerne mit ihm gelebt hätte. Rachel merkte, dass ihr die unregelmäßigen Treffen zu wenig wurden. Sie vermisste ihn dazwischen und sehnte sich nach ihm. Die Geheimhaltung belastete sie. In zwei Jahren mussten sie ihre Beziehung theoretisch nicht mehr verstecken, aber sie hatten noch nicht darüber gesprochen, wie sie danach verfahren wollten.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er plötzlich: „In zwei Jahren werde ich mich der CIA offenbaren. Bis dahin bin ich ausgestiegen und ein freier Mann. Wenn wir wirklich zusammenziehen sollten …"
Rachels Herz machte einen Hüpfer. Schlug gerade er der unverbindliche, freiheitsliebende Sark den nächsten Schritt in ihrer Beziehung vor?
„Machen wir reinen Tisch oder wollen wir es darauf ankommen lassen? Früher oder später werden deine Leute erfahren, dass wir zusammen sind."
„Wir haben ja noch ein bisschen Zeit, bis wir uns entscheiden müssen", meinte Rachel. „Sehen wir, wie es läuft, OK? Und überlegen wir uns derweil, was wir machen."
Sark hauchte ihr einen Kuss auf den Hals und zog sie näher an sich. Rachel schloss genüsslich die Augen, als ihr Handy vibrierte.
„Die Arbeit ruft, fürchte ich", meinte sie enttäuscht und löste sich aus der Umarmung ihres Geliebten. Der Verlust seiner Berührung tat ihr regelrecht weh. Sie sammelte zügig ihre Kleidung zusammen. Sark tat es ihr wortlos gleich. Auch sein Handy meldete sich. „Die Arbeit."
„Es war …"
„Ja, das war's.
Die Enttäuschung über die Unterbrechung stand beiden ins Gesicht geschrieben.
Sie küssten sich zum Abschied. Es war ein Kuss mit der Hoffnung und der Erwartung, dass sich ihre Situation bald ändern würde.
„Wir sehen uns", sagte Rachel, ehe sie das Hotelzimmer verließ.
Die folgenden zwei Jahre waren wohl die schwersten ihrer gesamten Beziehung. Je mehr Sark der CIA half, desto gefährlicher wurde es für ihn. Da niemand wusste, dass er die anonyme Quelle war, musste er nicht nur seine Rolle als Doppelagent in der Unterwelt weiterspielen, sondern sich auch vor der CIA verstecken, die ihn weiter jagte. Das verlangte ihm einiges ab, körperlich wie psychisch, und verkomplizierte ihre Beziehung.
Inzwischen trafen sie sich mehrmals pro Monat, denn anders ließ sich ihre Sehnsucht füreinander nicht mehr stillen. Rachel war verrückt nach Julian Sark und sie wollte für immer mit ihm zusammen sein. Jedes Mal, wenn sein Name in einer Besprechung im Büro erwähnt wurde, überkam sie ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen ihres Doppellebens. Sie versuchte, sich so gut es ging nichts anmerken zu lassen, doch ihre Freunde und Kollegen anlügen zu müssen, war alles andere als leicht.
Was sie irgendwann nicht mehr verbergen konnte, waren ihre Glücksgefühle und die Tatsache, dass sie auf Wolke sieben schwebte. Und dann nur ein paar Monate vor Ablauf der Frist, machte Sark ihr einen Heiratsantrag. Am Ringfinger ihrer rechten Hand funkelte fortan ein Brillantring.
„Du bist anders, Rachel", stellte Sydney fest. Ihrer aufmerksamen Kollegin entging leider nichts. Das war der Nachteil, wenn man mit Agenten zusammen arbeitete. „Du strahlst richtig in letzter Zeit. Gibt es da etwa jemand Besonderen?", fragte Sydney mit einem vielsagenden Grinsen, während sie sich gerade in der Teeküche Kaffee holten.
Rachels Wangen wurden heiß. Sie zeigte Sydney ihren Ring.
„Hey, meinen Glückwunsch! Wer ist der Glückliche? Lernen wir ihn mal kennen?"
„Irgendwann stelle ich ihn euch mal vor", sagte Rachel der Höflichkeit halber.
„Deshalb bist du so glücklich in letzter Zeit. Du bist verliebt. Ich freue mich wirklich für dich. Wann heiratet ihr? Gibt es schon einen Termin?"
„Er will die nächsten drei Monate nach etwas Geschäftliches erledigen und dann legen wir den Termin fest. Er ist beruflich viel auf Reisen genau wie ich."
„Steckst du schon in Vorbereitungen?"
„Noch nicht so richtig." Mit Schrecken traf Rachel die Erkenntnis, dass sie ihre Kollegen, die sie sehr gern mochte, nicht mal zu ihrer Hochzeit einladen konnte. Ihre Familie wusste auch noch nichts von ihrer Beziehung und ihrer Verlobung.
Ihre Freude und ihr Glück über ihre baldige Hochzeit bekamen einen schmerzhaften Dämpfer verpasst, als sie das Thema ihrer nächsten Besprechung von Dixon erfuhr: Julian Sark.
„Sark ist immer noch unterwegs und aktiv. Auch wenn er der CIA seit inzwischen fast zwei Jahren kaum noch Probleme bereitet, steht er immer noch auf unserer Liste. Unsere Aufgabe ist es nach wie vor, ihn ausfindig zu machen und festzunehmen. Marshall hat dazu etwas."
Dixon gab das Wort an ihren Techniker weiter, der sich sogleich erhob. „Oh, ja, äh, danke, Dixon. Also, ich verfolge Sarks Bewegungen jetzt schon eine ganze Weile und dabei ist mir etwas Interessantes aufgefallen."
Marshall rief ein paar Bilder auf dem Bildschirm auf. „Ich habe eine Auflistung aller Orte gemacht, an denen ich Sark in den letzten beiden Jahren entdeckt habe und hab sie mit unseren Einsatzorten verglichen. Dabei fiel mir ein Muster auf."
Rachels Herz stolperte kurz, was ihr ein sehr unangenehmes Gefühl in der Brust bescherte.
„Er ist immer genau dort unterwegs, wo wir auch sind", fasste Dixon zusammen. „Besonders auffällig ist, dass er sich wohl bevorzugt an Agent Gibs dranhängt."
Da stand sie schwarz auf weiß, die ungeschönte Wahrheit. Und von Bildbeweisen wurde sie noch umrahmt. Sark war sogar von Überwachungskameras im selben Hotel gefilmt worden, in dem Rachel bei einem Einsatz übernachtet hatte. Sie konnte sich an die Nacht erinnern. Nachdem sie ihren Auftrag ausgeführt hatte, hatte Sark sie zu einem romantischen Abendessen und einem Strandspaziergang eingeladen.
„Rachel, er war im selben Hotel wie Sie", sagte Dixon ernst. „Sind Sie ihm dort begegnet?"
Sie überlegte kurz. „Wenn er wirklich im selben Hotel wie ich war, dann muss er mir aus dem Weg gegangen sein. Ich bin ihm nicht begegnet", log Rachel mit so viel Glaubwürdigkeit, wie sie in ihre Worte packen konnte. Ihre Begegnung hatte bis drei Uhr morgens gedauert. Die Details der Geschehnisse in ihrem Zimmer rief sie sich in dieser Runde besser nicht in Erinnerung. Ihre Wangen waren schon gerötet und heiß genug.
„Ich verstehe eines nicht", warf Sydney ein. „Er taucht überall dort auf, wo wir sind, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er gegen uns arbeitet. Ganz im Gegenteil. Seine Aktivitäten haben in den vergangenen zwei Jahren sehr stark abgenommen."
„Vielleicht ist er auf Informationen aus", meinte Dixon. „Was auch immer es ist, wir müssen es herausfinden. Ganz besonders jetzt, da wir erfahren haben, dass sich ehemalige Mitglieder von Prophet-5 zusammengeschlossen haben und aktiv geworden sind. Sark hat für Prophet-5 gearbeitet. Das lässt den Schluss zu, dass er womöglich mit dieser neuen Gruppierung ebenfalls zusammenarbeitet."
„Gibt es darauf einen konkreten Hinweis?", fragte Rachel vorsichtig.
„Diese Gruppierung aus ehemaligen Prophet-5-Agenten sucht, laut meinem CIA-Kontakt in Lissabon, nach einem Rambaldi-Artefakt", sagte Dixon.
„Hört dieser Alptraum eigentlich nie auf?", bemerkte Sydney, wobei sie ihre Wut hinter ihrer Professionalität verbarg.
„Was für ein Artefakt? Ich dachte, dass wir alles zusammengetragen hätten?" Rachel war verwirrt.
„Wissen wir nicht genau", sagte Marshall. „Das ist es ja."
„Wir hatten auf deine Quelle gehofft, Rachel", fügte Dixon hinzu. „Und vielleicht kann sie uns ja auch einen Hinweis auf Sark geben."
„Ich werd sehen, was sich machen lässt."
„Ich hab von dieser neuen Prophet-5-Gruppe gehört", sagte Sark, nachdem ihm Rachel das erzählt hatte, was sie bei der Arbeit erfahren hatte. „Ehemalige Agenten, die noch übrig sind und jetzt ihr eigenes Ding machen wollen. Sie suchen, glaube ich, nach Rambaldis Tagebüchern."
Sie nahmen zusammen ein Bad im Hotel. Rachel schloss die Augen und lehnte sich an Sark. Sie war verrückt nach ihm und kaum etwas konnte ihr Bedürfnis nach seiner Nähe befriedigen.
„Rambaldis Tagebücher?", fragte Rachel interessiert
„Angeblich ein dicker Wälzer von 600 Seiten, der in irgendeinem Versteck seit 500 Jahren auf einen Finder wartet", erklärte Sark. „Darin sollen Botschaften und Codes versteckt sein."
„Du scheinst viel darüber zu wissen."
Es war einer der seltenen Momente, in denen er von seiner Familie sprach. Er war sehr zurückhaltend, was dieses Thema anbelangte. „Mein Vater, Andrian Lazarey, ein ehemaliger russischer Diplomat, war ein Anhänger Rambaldis. Er sprach oft von diesen Tagebüchern und suchte sogar nach ihnen. Ohne Erfolg."
„Es sind jetzt noch drei Monate, bis dir die CIA Immunität zugesteht und du dich nicht mehr verstecken muss", sagte Rachel. „Wir dürfen nicht riskieren, dass etwas schiefläuft. Sie sind an dir dran. Sie wissen, dass wir oft an denselben Orten waren. Bitte, Julian, wir müssen vorsichtig sein."
„Ich weiß", erwiderte Sark. „Es ist bald vorbei, versprochen."
„Gib ihnen alle Informationen, die du zum neuen Prophet-5 hast, damit die Sache ein Ende hat."
Rachel konnte ihre Angst und Ungeduld nicht mehr verbergen. Das inzwischen drei Jahre andauernde Versteckspiel war ihr zuwider.
„Das werde ich."
Sie küssten sich.
Sark hielt Wort. Er lieferte, sodass die CIA einen Teil des neuen Prophet-5-Netzwerkes zerschlagen konnte. Die Zweijahresfrist verstrich ohne weitere Vorkommnisse. Rachel fiel eine schwere Last von den Schultern. Ein normales Leben war endlich zum Greifen nah.
„Also, Agent Gibs", der Außenstellenleiter aus Langley war ernst. „Ihre Quelle hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Wir sind bereit, ihr Straffreiheit zu gewähren, aber damit das möglich ist, muss sie sich uns offenbaren."
„Mein Informant wird in Kürze Kontakt zu Ihnen aufnehmen."
Es war alles vorbereitet. Der Termin, wann sich Sark der CIA offenbaren wollte, stand fest. Bei ihrem nächsten Treffen wollten sie feiern, dass die Anspannung und die Geheimhaltung endlich ein Ende hatten. Doch es kam anders.
Sark meldete sich nicht bei der CIA und auch nicht bei ihr. Egal, wie oft sie ihn anrief, nur die Mobilbox antwortete. Natürlich wurde sie umgehend das Ziel diverser Fragen.
„Wo ist deine Quelle?"
„Warum meldet er sich nicht?"
„Wenn er sich nicht binnen 24 Stunden meldet, platzt der Deal!"
„Ich bin mir sicher, es gibt eine Erklärung dafür", versicherte Rachel, die von Angst gepackt wurde. Warum reagierte Sark nicht? Er konnte unmöglich die Arbeit von zwei Jahren einfach wegwerfen. Dafür hatten sie zu viele Opfer gebracht. Die Antwort auf ihre Frage erhielt sie alsbald.
Sie versuchte abermals ihn zu erreichen, doch wieder ging nur die Mobilbox dran. Sie sprach eine weitere Nachricht darauf. Als sie aufgelegt hatte, dauerte es nur ein paar Sekunden und ihr Handy klingelte. Erleichtert, dass er sich endlich meldete, hob Rachel sofort ab.
„Julian, wo bist du? Die CIA ist …"
„Mr. Sark ist leider verhindert", sagte eine maschinell verzerrte Stimme. „Er wird jetzt auf die harte Tour lernen, was mit Verrätern passiert. Wir schicken dir und der CIA seine Einzelteile." Es wurde aufgelegt.
Rachel ergriff panische Angst und sie bekam kaum noch Luft. Ihre Verzweiflung drohte die Oberhand zu gewinnen. Dann atmete sie tief durch und besann sich. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Sie tat das Erstbeste, das ihr einfiel: Sie rief Sydney an und beichtete.
Die Runde hatte sich im Besprechungsraum eingefunden.
„Agent Gibs, was ist passiert?", fragte ihr Einsatzleiter. „Sie sind ja völlig aufgelöst."
Das war sie wirklich. Während sie Sydney die Wahrheit über alles erzählt hatte, hatte sie immer zu geweint. Jetzt noch spürte sie die getrockneten Tränen auf ihren Wangen.
„Ist schon gut, Rachel. Erzähl den anderen, was du mir erzählt hast", sagte Sydney ruhig und legte ihre Hand auf Rachels.
„Mein Kontaktmann, meine Quelle … Ich weiß jetzt, was mit ihm passiert ist, warum er sich nicht meldet", begann Rachel mit zittriger Stimme. „Ich hab versucht ihn zu erreichen. Dann kam ein Anruf von seinem Handy. Jemand Fremdes war dran, die Stimme konnte ich nicht erkennen. Sie haben ihn in ihrer Gewalt. Sie werden ihn umbringen! Wir müssen etwas unternehmen. Bitte!"
„Wer war das?", fragte Dixon.
„Ich weiß es nicht. Die Stimme war verfremdet. Sie haben gesagt, sie würden ihm zeigen, was mit Verrätern passiert. Er ist aufgeflogen und sie werden ihn töten!"
Eine neuerliche Welle Tränen rann über ihr Gesicht.
„Das scheint Sie sehr mitzunehmen", bemerkte ihr Einsatzleiter. „Stehen Sie sich nahe?"
Sydney nickte ihr zu.
„Wir sind seit ungefähr drei Jahren zusammen", erklärte Rachel. „Er ist mein Verlobter."
„Moment mal, Sie haben seit drei Jahren eine Beziehung mit jemandem, der in kriminelle Machenschaften verstrickt ist?"
„Ich übernehme die volle Verantwortung dafür", versicherte Rachel in ihrer Verzweiflung, „aber bitte helfen Sie mir, ihn zu finden. Ich will ihn nicht verlieren."
„Ich nehme mal an, deshalb wollte Ihre Quelle anonym bleiben", schlussfolgerte ihr Teamleiter.
„Ich hab ihm dazu geraten, den Deal mit der CIA zu machen", gestand Rachel. „Damit er nicht ins Gefängnis muss und wir zusammen sein können. Er hat uns so gut geholfen und jetzt wollen sie ihn dafür umbringen."
„Agent Gibs, wir müssen wissen, wer er ist", drängte ihr Teamleiter.
Sydney wechselte einen Blick mit Dixon, auf dessen Gesicht sich schlagartig Erkenntnis ausbreitete.
„Es ist Julian Sark", eröffnete Rachel ihrem Team.
„Das darf doch nicht wahr sein!", schimpfte ihr Teamleiter.
„Das heißt, wir haben gleichzeitig unsere Ziele und unseren Informanten gejagt, der uns Informationen über unsere Ziele gegeben hat", fasste Dixon die Situation zusammen.
„Das erklärt ja auch die zufälligen Treffen in den Hotels", meinte Marshall etwas kleinlaut.
„Habt ihr dabei jemals Informanten ausgetauscht?", wollte Dixon wissen.
„Niemals!", verteidigte sich Rachel. „Wir haben unsere Beziehung und unsere Arbeit streng getrennt. Bitte, ich schwöre es!" Sie war am Rande der Verzweiflung. Wertvolle Zeit verstrich, während Julian in Lebensgefahr schwebte.
„Agent Gibs, das wird Konsequenzen für Sie haben", meinte der Außenstellenleiter der CIA.
„Das ist jetzt Nebensache." Sydney sprang Rachel als Unterstützung bei. „Machen wir uns darüber bitte später Gedanken. Jetzt müssen wir Sark finden. Die Leute, die ihn in ihrer Gewalt haben, meinen es ernst. Sie werden ihn töten, er hat sich eine Menge Feinde gemacht. Rachel, du hattest zuletzt Kontakt mit ihm. Gehen wir den Zeitplan nochmal durch."
„Sark wollte sich gestern mit unseren Leuten hier in Los Angeles treffen", sagte ihr Teamleiter. „Wir wollte er anreisen?"
„Per Flugzeug", sagte Rachel. „Er hätte vom Flughafen Chicago kommen sollen."
„Marshall, Sie übernehmen die Überwachungskameras!", wies Sydney ihren Techniker an.
„Wird gemacht!", sagte Marshall sofort und sprang auf.
„Agent Gibs, fühlen Sie sich in der Lage, an den Ermittlungen teilzunehmen?", fragte ihr Einsatzleiter. Rachel wischte sich die Tränen weg und nickte. Alles, was sie wollte, war, ihren Geliebten wieder in die Arme schließen zu können. Und wenn sie dafür um die halbe Welt fliegen musste.
„Gut, dann versuchen Sie, Agent Dixon und Agent Bristow bitte den Zeitablauf der Entführung zu rekonstruieren und den Handyanruf zurückzuverfolgen. An die Arbeit."
„Wir habt ihr miteinander kommuniziert?", fragte Sydney, während sie vor Rachels Computer saßen.
„Wir haben ein privates Handy", erklärte Rachel, legte besagten Gegenstand sofort auf den Tisch und rief Sarks Nummer auf. „Der Anruf kam von seinem Handy."
„Können Sie das Handy orten, Rachel?", fragte Dixon.
Das war nicht schwer. Rachels Finger flogen beinahe über die Tasten. „Das Handy ist ausgeschaltet, aber der Anruf kam aus …" Sie stutzte. „Aus Polen. Julians Handy wurde in Warschau zuletzt benutzt. Danach wurde es abgeschaltet."
„Sie haben ihn nach Osteuropa entführt", schlussfolgerte Sydney.
„Hey Leute, das solltet ihr euch ansehen!" Marshall verkündete aufgeregt, dass er etwas gefunden hatte. Sofort eilten sie in sein Büro.
„Seht mal hier, ich habe Sark gefunden. Er wurde um 13:07 Uhr am Chicagoer Flughafen aufgenommen. Ich denke, er wollte wohl die Maschine und 13:56 Uhr nehmen."
„Ja, das sagte er", sagte Rachel.
Marshall rief die Aufnahme der Überwachungskamera auf. Sark ging mit einer Tasche in der Hand Richtung Schalter, wo er einchecken wollte. Auf dem Weg dorthin wurde er von einer Gruppe von wenigstens fünf Männern umringt und beinahe unauffällig in eine andere Richtung gedrängt.
„Einer von denen hatte eine Waffe", sagte Sydney. „Sie haben Sark gezwungen mitzukommen."
„Sie haben ihn abgefangen, ehe er in die Maschine steigen konnte", fügte Marshall hinzu. „Er saß nicht drin."
„Moment mal, können Sie die Männer etwas näher heranzoomen, Marshall?", bat Dixon.
„Oh Gott", sagte Sydney.
„Was ist?", wollte Rachel wissen.
„Wir erkennen diesen Mann", erklärte Dixon und deutete auf einen dunkelhaarigen Mann mittleren Alters, der sich Sark auf dem Video in den Weg stellte. „Sydney und ich hatten bei SD-6 schon mal mit ihm zu tun. Ein tschetschenischer Auftragsmörder. Wer auch immer den auf Sark angesetzt hat, will nicht nur, dass Sark stirbt, nein. Er will, dass Sark leidet."
„Oh nein." Rachel sah ihre Hoffnung schwinden. Sark wurde seit mehr als einem Tag vermisst. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde die Wahrscheinlichkeit geringer, ihn lebend wieder zu finden.
„Von dort aus müssen sie ihn in ein Flugzeug mitgenommen und nach Osteuropa verschleppt haben", sagte Sydney. „Marshall, können Sie dort weiterforschen?"
„Ich kann es versuchen, aber Osteuropa ist groß. Können Sie das etwa weiter eingrenzen?"
„Warschau, fangen Sie dort an."
„Alles klar." Marshall grenzte den Suchraum weiter ein. „Beginnen wir mit dem Flughafen, vielleicht finden wir da ja was." Er hackte sich in die Überwachungskameras.
„Da! Da kommen die Typen mit Sark!", rief Dixon als erster.
„Wo gehen sie hin?!", fragte Rachel ungeduldig.
„Sie verlassen den Flughafen auf jeden Fall nicht, sondern gehen zu den Flugzeugen", meinte Marshall und verfolgte die Gruppe weiter per Kamera.
„Eine private Maschine vermutlich. Welche Flugzeuge sind zu dieser Zeit dort abgeflogen?", fragte Sydney.
„Sekunde noch." Marshall tippte mit atemberaubender Geschwindigkeit. „Da! Fünf Privatflugzeuge für Passagiere und ein privates Frachtflugzeug. Es gehört zu einer … zu einer Briefkastenfirma."
„Bingo, da haben wir sie. Wo ist es hin?", fragte Dixon.
„Moment, hab's gleich! Slowakei!"
„Da ist eine Außenstelle des neuen Prohept-5", sagte Sydney. „Wir müssen sofort einen Einsatz vorbereiten. Abflug in 30 Minuten!"
„Ich will mitfliegen!", flehte Rachel.
„Du bleibst hier", sagte Sydney. „Du bist im Moment in keinem Zustand, um einen Einsatz durchzuziehen. Wir erledigen das, vertrau uns. Wir finden Sark."
Ein Team vor Ort war bereits im Einsatz, als Sydney und Dixon mit ihren Leuten in slowakischen Hauptstadt eintrafen. Rachel verfolgte im CIA-Büro zusammen mit Marshall und ihrem Einsatzleiter die Geschehnisse.
Sarks Entführer versteckten sich in einer verlassenen Lagerhalle. Es gab einen Schusswechsel mit mehreren Verletzten und Toten, dann herrschte Stille.
„Agent Bristow, was ist da los?", fragte ihr Einsatzleiter.
„Wo ist Julian? Habt ihr ihn gefunden?" Rachels Herz klopfte wie wild gegen ihren Brustkorb. Obwohl sie selbst nicht im Kampfgeschehen war, lief Schweiß ihren Rücken hinab.
Sydney antwortete zuerst nicht. „Sydney, bitte rede mit mir!"
„Ich glaube, wir haben ihn." Sie fanden Sark schließlich im Kellergewölbe des Gebäudes, wo ihn seine Entführer nach stundenlanger Folter zum Sterben zurückgelassen hatten. Er war ohne Bewusstsein und so schwer verletzt, dass er kaum mehr am Leben war und wiederbelebt werden musste.
„Wir haben ihn, Rachel. Wir bringen ihn ins Krankenhaus."
„Bin auf dem Weg." Sie ließ alles stehen und liegen und bestieg sofort das nächste Flugzeug.
Sie war entkräftet und müde von den Strapazen und ihren Sorgen, doch Rachel hielt sich wacker wach. Nicht mal im Flugzeug hatte sie Ruhe finden können. Vielmehr war sie die Gänge auf- und abgetigert, weil sie in Gedanken nur bei ihrem Verlobten war. Sie hatte schreckliche Angst und die Ungewissheit quälte sie.
Im Krankenhaus in der Slowakei traf Rachel Sydney.
„Wie geht es ihm?"
„Er ist auf der Intensivstation", erklärte Sydney. „Er hat die OP gut überstanden, aber sie mussten ihn zur Sicherheit in ein künstliches Koma versetzen. Seine Verletzungen waren sehr schwer."
„Oh Gott." Die schlimmsten Befürchtungen überkamen Rachel wie eine reißende Flutwelle.
„Also, wenn ich eines weiß, dann, dass Sark ziemlich hart im Nehmen ist. Der schafft das, ganz sicher", sagte Sydney langsam. Der Gedanke, dass sie und Julian Sark womöglich auf der selben Seite stehen könnten, widerstrebte ihr, das war ihr anzumerken. Sie hatte sich noch nicht an die neuen Umstände gewöhnt und konnte wohl das, was sie in den letzten Stunden erfahren hatte, noch nicht richtig einordnen. Deshalb verhielt sie sich Rachel gegenüber etwas kühl.
„Sydney, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll."
„Schon gut."
Rachel hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Es tut mir so leid, dass ich euch belogen habe", sagte Rachel. „Glaub mir, die letzten drei Jahre waren nicht einfach. Ich wollte euch niemals etwas vormachen."
„Rachel, darüber reden wir ein andermal. Du solltest zu ihm."
Rachel betrat zusammen mit dem Arzt Sarks Zimmer. Der slowakische Arzt sprach gutes Englisch und erklärte ihr, was mit ihrem Verlobten passiert war.
„Mr. Sark hatte sehr viel Glück. Er wurde schwer verprügelt und hat mehrere Stichverletzungen und Knochenbrüche. Leber und Milz wurden verletzt. Und eine Kugel verfehlte nur knapp das Herz. Er ist über den Berg, aber es wird eine Weile dauern, bis er wieder aufwacht. Sie können gern bei ihm bleiben."
Das tat Rachel. Sie wich nicht von seiner Seite. Die CIA und die möglichen Konsequenzen, die Zuhause auf sie warteten, waren weit weg. Alles, was zählte, war Sark. Man hätte sie feuern können, es wäre ihr egal gewesen. Sie wollte keine Lüge, keine Fassade mehr leben. Ihr Handy klingelte ein paar Mal, aber sie ging nicht ran. Dann war der Akku leer, aber es kümmerte sie nicht. Rachel waren sogar die CIA-Agenten egal, die vor der Tür Wache hielten.
Es dauerte fast eine Woche, bis Sark schließlich aus dem Koma erwachte. Der Arzt war zuversichtlich, dass er auf dem Weg der Besserung war. Viel gemeinsame Zeit blieb dem Paar allerdings nicht, denn schon bald kündigte sich Besuch an.
Es klopfte eines Nachmittags.
„Ja?"
Sydney besuchte sie. „Hey", sagte sie freundlich. Als sie Rachel sah, lächelte sie. „Rachel, du siehst furchtbar aus. Du solltest dir mal eine Pause gönnen."
„Ich weiß." Sie hatte seit einer Ewigkeit nicht geduscht oder ihre Haare gemacht. Dazu hatte sie in der vergangen Woche nur wenig geschlafen. „Was habe ich verpasst?", fragte Rachel.
„Du bist nicht gefeuert", erklärte Sydney, „aber du musst mit einem Disziplinarverfahren rechnen und hast eine Weile Innendienst."
„Damit kann ich leben."
„Können Sie reden, Mr. Sark?", fragte Sydney an Sark gewandt.
„Mehr schlecht als recht, aber ja." Seine Stimme war rau und kratzig. Sein Hals war immer noch geschwollen und blau von den Würgemalen, die ihm seine Entführer zugefügt hatten. Sein Gesicht war mit Blutergüssen übersät und ein Auge fast völlig zugeschwollen.
„Ich habe Rücksprache mit dem Direktor gehalten", sagte Sydney. „Unser Deal steht noch. Sie haben Ihren Teil erfüllt, jetzt erfüllen wir unseren. Wir garantieren Ihnen Straffreiheit. Sie müssen nicht ins Gefängnis."
Rachel fiel ein Stein vom Herzen.
„Das höre ich gern", meinte Sark.
„Dennoch will die CIA auch in Zukunft wissen, was Sie so treiben. Das heißt, hin und wieder schauen wir mal bei Ihnen rein."
„Damit komm ich klar", sagte Sark und ließ sich zu einem schwachen Lächeln hinreißen.
„Wir werden wohl nie Freunde werden", sagte Sydney. „Aber Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Dank Ihnen hat die CIA eine ganze Reihe Erfolge verbuchen können."
„Gern geschehen."
„Wenn Sie wieder stabil sind, werden Sie in die USA zurückgeflogen. Leider können wir Ihnen eine Befragung nicht ersparen. Der CIA hat noch ein paar Fragen an Sie."
„Ich stehe zur Verfügung", sagte Sark.
„Gut. Dann bin ich auch schon fertig und wieder weg. Gute Besserung", sagte Sydney und wandte sich um, um zu gehen.
„Agent Bristow? Sydney? Warten Sie bitte mal."
„Ja?"
„Ich hielt immer große Stücke auf Ihre Fähigkeiten. Sie haben mir das Leben gerettet. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Danke."
„Gern geschehen", sagte Sydney.
„Ich habe noch ein paar Informationen für Sie", sagte Sark.
Rachel nickte. Ihr Verlobter hatte ihr bereits erzählt, was er erfahren hatte. „Das könnte euch wirklich interessieren."
„Ich habe einen Hinweis auf das neue Prophet-5. Sie haben ein Untergrundnetzwerk in China aufgebaut. Ihr Hauptquartier ist in Nanjing. Und ich glaube, ich weiß, wo die Tagebücher Rambaldis sind. Darauf waren sie aus."
„Rambaldis Tagebücher?"
„Sie sind wahrscheinlich in einem Versteck in Peking."
„Das werden wir überprüfen. Erholen Sie sich gut."
Die CIA konnte Prophet-5 einen vernichtenden Schlag zufügen und fand die Tagebücher tatsächlich Sie waren nun sicher an dem geheimen Aufbewahrungsort der Rambaldi-Artefakte. Nach ein paar Monaten am Schreibtisch durfte Rachel in den Außendienst zurück. Sark brauchte ein halbes Jahr bis zu seiner vollen Genesung. Nun, da alle Geheimnisse offen gelegt waren, begann ein neuer Abschnitt für sie. Ihr Leben verlief nun endlich in geordneten Bahnen. Sie konnten offen zu ihrer Beziehung stehen. Ihre Hochzeit konnte normal stattfinden und sie konnten in ihre gemeinsame Wohnung ziehen. Das Versteckspiel, das Doppelleben, die ständige Gefahr waren endlich vorbei. Es war ein langer Weg gewesen von Sao Paolo bis heute, doch er hatte sich mehr als gelohnt. Rachel war glücklich.