Kapitel 21 - Das falsche Mädchen

„Bist du dir sicher, dass das Mädchen da Ayumi ist? Ich meine, sie sieht ihr vom Gesicht her ähnlich, aber…", fragte Genta, während er und Mitsuhiko aus dem Fenster heimlich in das Innere von Professor Agasa's Labor blickten.

„Das kann ich nicht mit Genauigkeit sagen. Um ehrlich zu sein, kann ich es selbst nicht glauben, selbst wenn es so wäre."

„Du weißt es nicht, habe ich Recht?"

„Sollen wir nachprüfen?", schlug Mitsuhiko vor und Genta nickte zustimmend. Doch als Mitsuhiko gerade die Tür öffnen wollte, ging sie schon von selbst auf und ein gähnender Conan stand vor ihnen, so als hätte er sie schon erwartet.

„Sag mal, wie lange wollt ihr noch vor der Tür stehen. Kommt doch rein.", sagte er und machte die Tür weiter auf.

„Conan?", antworteten die beiden überrascht. Conan hob misstrauisch eine Augenbraue. Sichtlich verlegen, betraten die beiden die Eingangshalle und hängten ihre Kleidung an die Haken. Dann waren ihre Blicke auf das ältere Mädchen in der Küche gerichtet.

„Wer ist das denn eigentlich bei euch?", fragte Genta plötzlich.

„Sie heißt Ayame und ist erst vor kurzem hierhergezogen und wohnt jetzt hier in der Nähe. Wir haben sie zu uns eingeladen, um sie bei uns willkommen zu heißen.", antwortete Conan und gähnte erneut.

Als Ayumi's und Mitsuhiko's Blicke sich trafen, blickte sie verlegen zur Seite.

„Wo steckt denn Ai?", fragte Mitsuhiko und sah sich verwirrt um.

„Sie ist gerade beim Professor und hilft ihm bei einer Erfindung."

„Ach so."

„Wo genau wohnst du eigentlich?", fragte Genta sie neugierig.

„Ungefähr 3 Häuserblocks weiter."

„Ist ja cool, dann kannst du ja morgen mit uns denselben Weg in die Schule gehen."

„Aber klar doch, Genta."

Mitsuhiko hielt plötzlich inne. Moment, was…?

„Hä? Ich hab dir aber meinen Namen noch nicht gesagt.", bemerkte Genta verwirrt.

„Woher weißt du, wie er heißt?", fragte Mitsuhiko interessiert und näherte sich Ayumi.

Was? Ayumi hielt sich erschrocken den Mund zu und ihre Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als sie realisierte, dass sie gerade einen Fehler begangen hatte.

„Genau, wir sehen uns hier zum ersten Mal.", stimmte ihm Genta zu.

War das jetzt vorbei mit ihr? Ist ihre Identität wirklich aufgeflogen? Sie trat einen Schritt zurück, als Mitsuhiko's misstrauischer Blick sie traf. Hilfesuchend wandte sie sich nach Conan um, doch jemand anders meldete sich stattdessen zu Wort.

„Das liegt daran, dass wir ihr von euch schon erzählt haben. Sie hat sich ziemlich über euch gefreut, oder Ayame?", sagte eine ihnen vertraute Stimme hinter ihnen und die beiden wandten sich nach ihr um.

„Ayumi?", fragten die beiden erstaunt und Mitsuhiko klappte beinahe die Futterlucke auf.

Vor ihnen stand Ayumi, in ihrer normalen Form und mit einer Maske vor dem Mund. Sie hustete ein paar Male, bevor sie fortfuhr.

„Ai sagte euch doch gestern schon, dass ihr euch um mich doch gar keine Sorgen machen solltet. Es ist nur eine Erkältung, nichts weiter."

„Na, wenn das dann Ayumi ist, wer ist dann…", begann Genta und warf einen Blick auf Ayame.

„Wenn ich es dir doch sage, das ist Ayame und sie ist neu hierhergezogen.", sagte Conan.

„Geht es dir jetzt besser, Ayumi?", fragte Mitsuhiko besorgt.

„Nachdem ich mich erholt hatte, schon. Ich glaube, ich kann morgen sogar mit euch wieder in die Schule gehen.", gab Ayumi unter der Maske von sich.

„Das ist ja großartig!", rief Mitsuhiko aufgeregt und Genta stimmte voller Vorfreude mit ein.

„Also wirklich, Leute. Ihr solltet euch lieber zuerst bei Ayame entschuldigen, weil ihr sie fälschlich verdächtigt habt. Sie hat diese ganze Sache nicht verdient.", sagte Conan.

„Stimmt, da hast du recht.", antwortete Mitsuhiko.

„Es tut uns fürchterlich leid, Ayame."

„Entschuldigung, Ayame!"

„Schon gut, ich bin euch nicht böse.", sagte sie und die Launen der beiden Jungs besserte sich.

„Freut mich, dass ihr gut miteinander auskommt. Ich mach Schluss für heute.", sagte Ayumi und nieste ein paar Male. Conan bemerkte das und gab ihr ein Taschentuch.

„Hier."

„Danke."

„Wo willst du denn hin?", fragte er.

„Ich leg mich für eine Weile hin."

„Mach das… und noch etwas…"

„Hä?"

„Ich danke dir."

Während die beiden mit Ayame redeten, hatte Mitsuhiko ihre Konversation aus dem Augenwinkel beobachtet. Er sah ihnen nach, wie sie die Eingangshalle verließen, doch machte keine Anstalten ihnen zu folgen.

—-

Nachdem die beiden das Haus vom Professor verlassen hatten, blickte Conan noch eine Weile aus dem Fenster, um zu sehen, ob die beiden sie nicht schon wieder ausspionierten. Als er glaubte, dass die Luft rein war, sah er den Professor die Eingangstür öffnen und Ayame ließ ihn herein.

„Hallo Professor.", begrüßte sie ihn.

„Guten Abend, Leute.", antwortete er.

„Nanu, wo ist denn Ai?", fragte er nachdem er sich umgeschaut hatte und nur Conan und Ayumi erblickte.

„Die ist gerade bei sich im Zimmer."

„Abend, Professor."

„Oh, hallo Conan. Könntest du Ai bitte bescheid sagen, dass ich da bin?"

„Kein Ding, ich mach das schon.", sagte er und machte sich auf den Weg.

„Worum geht es denn, Professor?", fragte Ayumi.

„Ich habe nur in einem neuen Einkaufszentrum hier in Beika eingekauft, das ist alles."

„Ein neues Einkaufszentrum?"

„Aber ja, der hat erst vor kurzem ganz neu aufgemacht. 4 Stockwerke voller Einkaufsläden, so etwas habe ich in meinem Leben noch nie gesehen."

„Aber warum haben Sie uns davon nichts gesagt?"

„Tut mir leid, Ayumi, du hast Recht. Wie wär's morgen nach der Schule? Dann können wir alle zusammen dorthin gehen und uns mal das ganze anschauen."

Bei ihrem leicht schmollenden Blick konnte er aber nur lächeln.

„Ich werde Ai und Conan auch darüber informieren, keine Sorge. Und Mitsuhiko und Genta kommen auch mit, das ist doch klar.", fügte er noch hinzu. Ayumi antwortete darauf für eine Weile nichts. Als sie jedoch die Besorgnis auf dem Gesicht des Professors erblickte, machte sie erneut den Mund auf.

„Sie sind heute da gewesen."

„Wer? Meinst du Genta und Mitsuhiko?"

„Ja."

Der Professor war nicht ganz überrascht, irgendwie hatte er dies mehr oder weniger schon erwartet.

„Und wie war das für dich?", fragte er, während er seine Jacke am Kleiderständer aufhing.

„Am Anfang hatte ich Angst einen Fehler gemacht zu haben, aber dann habe ich versucht, mich an meine neue Identität zu gewöhnen. Dank Conan und Ai war es deutlich leichter."

Der Professor streichelte ihr sanft über die Haare.

„Das freut mich für dich, Ayumi. So plötzlich ein neues Leben anzufangen ist kein Zuckerschlecken, das kann ich dir sagen."

„Oh, kennen Sie sich etwa damit aus?", fragte sie und der Professor fuhr erschrocken hoch. Diese Frage hatte er nicht erwartet.

„Äh… also, nun ja… so in etwa.", antwortete er verlegen.

„So ist das also.", murmelte sie in Gedanken versunken. Professor Agasa seufzte schwermütig und trottete ins Labor. Ayumi sah ihm nach.

(„So plötzlich ein neues Leben anzufangen ist kein Zuckerschlecken…")

„Ein neues Leben.", wiederholte sie langsam.

Dieser Satz hatte etwas Machtvolles in sich. Etwas, was ihr Hoffnung gab. Vielleicht war das jetzt ihre Chance, Conan eine Hilfe zu sein. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht…

Würde er sie dann mögen? Ayumi wurde rot bei dem Gedanken.

—-

„Ai? Bist du da?", fragte Conan, während er an ihrer Tür klopfte. Letzten Endes öffnete er die Tür und sah sie auf ihrem Bett liegen.

„Professor Agasa wollte uns auf etwas einladen. Genauere Details dazu verrät er uns später, glaub ich."

Er warf einen Blick auf das, was auf ihrem Labortisch lag und lächelte leicht. Ai öffnete langsam ihre Augen und setzte sich aufs Bett. Ihr Blick war auf Conan gerichtet, der sich in ihrem Zimmer umsah.

„Du bist keine schlechte Schauspielerin, das muss ich dir lassen.", sagte er, nahm die Maske mit dem eingebauten Stimmentransposer vom Tisch und begutachtete sie aufmerksam.

„Dein Auftritt als Ayumi war wirklich gut. Selbst deine Augen stimmten mit denen von ihr überein."

„Pah, das Meiste habe ich deiner Mutter zu verdanken. Sie hat mir eine ihrer Kunstperücken ausgeliehen, die die selbe Farben hatten, wie die von Ayumi. Den Rest weißt du ja selbst."

„Stimmt. Ich war ja auch derjenige, der diese Idee vorgeschlagen hat, also vergiss nicht, dass ich die Lorbeeren dafür einkassiere."

Er konnte sich sicher sein, dass Subaru Okiya zu dieser Zeit nicht bei ihm zu Hause sein konnte, da er zu dem Zeitpunkt immer einen Spaziergang machte. Wären sie erneut aufeinander gestoßen, würde dies nur zu Komplikationen führen.

Ai gab ihm nur ein schiefes Lächeln.

„Währest du nicht rechtzeitig eingesprungen, wäre einiges in sich zusammengebrochen und wir wären gezwungen, uns weiter verwundbar machen.", begann er.

„Hör auf so eine große Sache daraus zu machen. Wenn das unsere Sicherheit gewährleistet, würde ich es tun, aber…"

„Na, dann ist ja gut.", sagte er und wollte schon gehen, doch Ai hielt ihn auf.

„Hör mal, ich…"

„Was denn?"

(„Das sagt ihr immer…")

„Ich wollte das nicht. Es mag leicht erscheinen, aber ich habe das Lügen satt. Heute habe ich die Freunde angelogen, die mir wichtig sind."

„Ai…"

„Wenn das so weitergeht, würde ich alles verlieren, was ihr alle mir gegeben habt."

Sie ballte ihre Hände.

„Glaubst du, es ist leicht für mich, Tagein, Tagaus, so zu tun, als wäre ich ein einfaches Grundschulkind?"

„Ich weiß nur zu gut, wie viel wir dir bedeuten, doch das ist der einzige Ausweg, den wir noch haben. Ich bin näher dran, wie nie zuvor, glaub mir.", sagte Conan und ging zur Tür.

Bevor er diesen Raum verließ, fügte er etwas hinzu: „Morgen kommt Masumi vorbei, um Ayumi abzuholen. Ich werde ihr einen Peilsender unterbringen, nur um sicherzugehen. Dann sehen wir weiter."

„Mach das."

„Bis morgen."

„Bis morgen."

Er schloss die Tür und ließ sie damit allein.

—-

„Ran."

Schon wieder diese Stimme. Seine Stimme. Sie schien zu schwimmen. Es fiel ihr schwer klare Gedanken zu fassen. Sie erinnerte sich an das Feuer, das sie umgab. Die Stimme schien aus den Tiefen des Feuers zu kommen. Sie wollte ihm näherkommen, doch irgendetwas schien sie zurückzuhalten.

„Ran."

Er sollte nicht auftauchen. Nein, nicht hier. Nicht jetzt.

„Ran."

Eine Hand packte sie am Rücken und wollte sie vom Feuer wegziehen. Sie wehrte sich, doch die Hand ließ nicht los, sondern packte sie noch fester.

„Ran."

Die Tonlage der Stimme veränderte sich. Sie versuchte nach ihm zu rufen, doch sie bekam kein Wort heraus. Die Hand zog sie weiterhin in die Tiefe.

„Ran!"

Sie öffnete langsam die Augen. Grelles Licht schien ihr ins Gesicht und sie verengte angestrengt ihre Augen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen.

„Sie wacht auf."

„Gott sei dank, ihr geht es gut."

Die Stimmen um sie herum wurden klarer. Als ihre Sicht sich besserte, konnte sie Umrisse von jemanden erkennen, den sie nur zu gut kannte.

„Conan?", brachte sie schlaftrunken heraus. Er schien schon zu schlafen. Sie blickte aus dem Fenster. Stockdunkel, womöglich schon Mitternacht.

„Wie fühlst du dich?"

„Huh?"

Sie neigte ihren Kopf auf die andere Seite des Bettes.

„Paps?"

„Alles okay?"

„Ich denke schon…"

„Dann bin ich froh. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Selbst der kleine Conan blieb bei dir und hat dir nicht von der Seite gewichen."

Sie warf einen weiteren Blick zum schlafenden Jungen auf der Bettseite neben ihr. Sie lächelte.

Dann, nach einer kurzen Weile fragte sie: „Was ist passiert?"

Die Miene ihres Vaters verschlechterte sich.

„Hat Anya es noch geschafft?"

„Ja, Fumiyoka hat mich angerufen und mir gesagt, dass es ihr gut geht. Dem Anwesen jedoch nicht, wie du dir schon denken kannst. Aber das ist jedoch nicht das Einzige, worüber ich mit dir reden wollte."

„Huh?"

„Was ist mit dir im Anwesen passiert? Warum bist du wieder ins Feuer hineingegangen?"

„Ich…"

Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran.

„Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Mir war schwindelig und trotzdem war es um mich herum angenehm. Und dann… dann habe ich seine Stimme aus dem Inneren des Hauses gehört."

„Was? Von wessen Stimme redest du?"

„Er war hier… Es war Shinichi's Stimme."

„Dieser Krimi-Spinner?"

„Nenn ihn bitte nicht so, Paps.", sagte sie mit schmollenden Unterton.

„Hä?"

„Nur ich darf ihn so nennen."

„Wat soll jetzt das denn heißen?"

„Und außerdem… ich weiß auch nicht was mit mir geschehen war, aber… Es war schrecklich. Ich wollte zu ihm gehen, doch er war zu weit weg. Ich konnte nur nach ihm rufen."

„Aber da war niemand, die Feuerwehr hat nach dem Brand das Anwesen auf mögliche Opfer untersucht. Und außerdem, wäre dein Shinichi erst recht nicht so dämlich, um in einem brennenden Haus zu bleiben."

„Sag doch so etwas nicht!"

„Nur rein hypothetisch…"

Sie seufzte schwer.

„Und da wäre noch was.", sagte sie.

„Was denn?"

„Außer seiner Stimme hörte ich noch eine andere. Die eines Mädchens, glaube ich. Sie hat mir gesagt, dass ich niemandem mehr trauen sollte."

„So ein Schwachsinn. Du meinst wohl so etwas wie eine Vision, richtig?"

„Ja."

„Blödsinn, niemand kann jemals in die Zukunft sehen. Natürlich kann man Hypothesen oder eine Wahrsagung aufgrund von logischen Schlussfolgerungen aufstellen, aber auch die sind nur noch Schall und Rauch, sobald eine andere Zukunft eintrifft. Da hat dir dein Verstand nur einen Streich gespielt, das passiert mal."

„Aber Paps, das war…", protestierte sie und wollte aus dem Bett steigen, doch ihr Vater hielt sie auf.

„Schluss jetzt, ich will, dass du dich hinlegst. Wir haben heute genug darüber gesprochen. Ich kann mir nicht ausdenken, was du dir dabei gedacht hattest. Trotzdem, ich sehe es dir nicht an, dass du überhaupt so etwas Naives tun würdest."

„Dann glaubst du mir?", fragte Ran mit verzweifelten Blick. Kogoro kratzte sich für eine Weile am Hinterkopf, bevor er ihr augenrollend seine Entscheidung verkündete.

„Das werden wir sehen. Und bitte bleib für diese Woche im Bett, ja?"

„Ja."

Sie beobachtete Conan, der neben ihr auf dem Krankenbett schlief, für eine kurze Zeit. Ran lächelte ein wenig und versuchte ihn anschließend aufzuwecken.

—-

Der nächste Morgen brach an und Ayumi gähnte, während sie mit Ai's Hilfe ihre Schuluniform anzog und sich somit auf ihren ersten Tag in der Oberschule vorbereitete.

„Hier, zieh das an.", sagte sie und reichte ihr den Rock.

„Danke…"

Sie betrachtete es sorgfältig. Es sah aus, als wäre es ein klein wenig in die Jahre gekommen.

„Sag mal, Ai… weißt du, wer diese Uniform vor mir getragen hat?"

„Keine Ahnung."

Selbst Ai wusste es nicht?

„Ich habe dir das Oberteil auf das Bett gelegt."

Sie nahm das Oberteil und zog es an.

„Ai…"

„Huh?"

Sie wandte sich um.

„Ich glaube, es passt mir nicht.", sagte Ayumi und Ai's Blick wanderte auf ihre Oberweite. Ein leicht genervter Blick breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Entschuldigung, dass ich nicht so gut gebaut bin.", murmelte sie.

„Ist etwas?"

„Nein, schon gut, lass mich dir helfen."

„Ach so, danke…"

„Ist alles okay?", fragte Ai und Ayumi blickte sie leicht erschrocken an. Dann schaute sie verlegen zur offenen Schranktür.

„Ich… ich bin nur ein wenig aufgeregt, das ist alles."

„Freust du dich auf deinen ersten richtigen Schultag?"

„Ja, aber… irgendwie macht es mir auch Angst. Wenn ich darüber nachdenke, dann würde ich doch gerne mit euch zur Schule gehen, anstatt zur Oberschule. Und außerdem…"

„Außerdem?"

„Ich weiß nicht, wie ich diese Hürde überwinden kann."

„Mach dir mal keine Sorgen darüber. Heute morgen wird dich Masumi abholen."

„Masumi…? Oh, du meinst den Jungen der zuvor hier war, oder?"

„Sie ist kein Junge, sondern ein Mädchen, Ayumi."

„Wirklich? Ich habe immer geglaubt, sie wäre ein Junge.", antwortete sie verwirrt.

Ai lächelte schief.

—-

„…explodierte eine Lagerhalle im Hafen von Beika. Neugierige Augenzeugen konnten Stunden nach dem Ereignis leere Patronenhülsen auf dem Boden vorfinden."

Auf dem Fernseher oben in der Eingangshalle des Professors zeigte sich aus der Hubschrauberperspektive ein Lagerhaus, dessen Überbleibsel voller Ruß und Rauch qualmten.

„Die Kriminalpolizei geht davon aus, dass eine Schießerei in diesem Umkreis stattgefunden hatte, jedoch ließen sich von der Spurensicherung weder Leichen noch weitere Blutflecke auf den Wänden oder auf dem Boden im Bezug zum Vorfall finden. Ob die Schießerei von einer oder mehreren Personen geführt wurde, bleibt dennoch unklar. Wir geben weiter an unseren Reporter Juzo Iwatari. Bitte erörtern Sie uns die Lage."

Der Nachrichtensender schaltete über an einen Mann, der mit einem Mikrofon im Hafen stand.

„Danke. Wie Sie hier sehen, stehe ich direkt vor eben besagter Lagerhalle, die vor mehreren Stunden in Flammen gestanden hatte. Laut der Spurenuntersuchung der Kriminalpolizei Tokio wurde diese Explosion von einem hochexplosiven Stoff ausgelöst, welches sich zur Zeit in diesem Lager befand. Wir sprechen jetzt mit Kommissar Chiba, guten Morgen."

„Gleichfalls.", sagte der pummelige Kommissar und trat vor die Kamera.

„Kommissar Chiba, ist Ihnen schon bekannt, welcher Stoff bei der Explosion benutzt wurde?", fragte der Nachrichtensprecher und gab ihm das Mikrofon.

„Das lässt sich leicht erklären, nachdem wir uns die Nachwirkungen und übriggebliebenen Stoffe angesehen und untersucht haben, die bei dieser Explosion verteilt wurden. Wir kamen schließlich zum Schluss, dass Nitroglycerin gelagert wurde und das nicht in kleinen Mengen. Dieser Stoff wurde jedoch nicht wie nach Vorschrift in einem speziellen Container gelagert, was der Grund für die plötzliche Detonation sein müsste."

„Können Sie erklären, warum jemand einen hochexplosiven Stoff hier lagern würde?"

„Solang konnten wir keine Bescheinigung oder die Verantwortlichen für die Ware finden, was uns zum Schluss bringt, dass sie entweder seit einem gewissen Zeitraum oder erst kürzlich heimlich hineingeschmuggelt wurde. Mehr dazu können wir leider nicht preisgeben, daher…"

„Hey, da bist du ja schon.", sagte Masumi und winkte den beiden zu, während der Professor ihr die Eingangstür offen hielt.

„Da seid ihr ja.", sagte er.

„Tut uns leid, es hat ein wenig gedauert. Ich hatte kleine Schwierigkeiten mit meiner Schuluniform.", entschuldigte sich Ayumi.

„Kein Ding. Aber hey, es steht dir wirklich gut, Ayame. Du siehst echt toll aus.", bewertete Masumi und grinste.

„Danke."

„Passt gut auf euch auf, ja? Viel Spaß in der Schule, ihr beiden.", sagte Professor Agasa und gab Ayumi eine braune Schultasche.

Als sie die Tasche in seiner Hand bemerkte, fiel ihr der Unterschied zwischen ihrer üblichen Grundschultasche und die, welche sie vom Professor bekommen hatte. Sie betrachtete es mit einem neugierigen Blick.

„Und die kann ich wirklich…", begann sie.

„Ja, ganz richtig. Diese Schultasche gehört ab jetzt dir. Ich habe auch Ordner und Schreibmaterial gestern eingekauft, damit du bei deiner neuen Klasse keine Probleme haben wirst.", antwortete er.

„Ist doch toll, oder? Jetzt ist alles für dich vorgesorgt.", sagte Masumi und klopfte ihr auf die Schulter. Ayumi strahlte vor Glück.

„Vielen Dank, Professor! Und dir auch Ai, vielen Dank euch beiden!", sagte sie.

„Bevor du gehst, hier ist noch etwas.", sagte Ai und kam mit einer blau-weißen Lunchbox von der Küche zurück.

„Hast du die selbst gemacht?", fragte Ayumi.

„Na klar… Oder glaubst du etwa, dass ich es selbst nicht kann?"

„Man kann doch immer die Hilfe anderer annehmen, oder?", antwortete Masumi und grinste gehässig. Ai rollte nur mit den Augen.

„Ich denke, wir sollten jetzt gehen, sonst kommen wir noch zu spät."

Bevor sie jedoch los ging, beugte sie sich hinunter zu Ai und murmelte ihr etwas zu. Dann wandte sie sich um und verließ das Labor. Ayumi beobachtete es aufmerksam, konnte sich aber keinen Reim daraus machen, was sie ihr gesagt hatte.

„Gut, dann… Ich wünsche euch viel Spaß in der Schule.", sagte der Professor und winkte den beiden hinterher. Ai hingegen rührte sich nicht.

„Sag mal, Masumi…", fragte Ayumi, nachdem die beiden das Labor verließen und die Häuserblocks entlang gingen.

„Was denn?"

„Was hast du eigentlich gerade eben mit Ai besprochen?"

„Ach nichts… ist nur so 'ne Sache zwischen uns, mach dir da keine Sorgen.", sagte sie und lächelte.

„Na dann ist alles gut. Es freut mich, dass ihr beide euch so gut versteht."

„Ja, so in der Art…"

Masumi lachte dazu nur.

„So, das war's wohl. Jetzt ist die Sache mit Ayumi für eine Weile geklärt, oder was denkst du, Ai?", fragte Professor Agasa, als er erleichtert die Eingangstür schloss.

Zu seiner Überraschung erhielt er keine Antwort.

„Ai?"

Wieder keine Antwort.

„Ist alles okay…?", fragte er ein drittes Mal, als er ihr kreidebleiches Gesicht und ihre vor lauter Schock weit geöffneten Augen erblickte.

„Na-nein…, wi-wie hat sie das…?", brachte sie heraus, während sie in Richtung Tür starrte.

Professor Agasa spürte, wie sich seine eigene Sorge langsam in ihm breitmachte. Er hatte keine Ahnung, wovon Ai sprach, aber er konnte sehen, dass sie äußerst beunruhigt war.

„Was ist los mit dir?", fragte er und versuchte, seine Stimme ruhig zu halten.

Ai antwortete nicht sofort. Stattdessen starrte sie weiterhin auf die Tür und atmete flach und schnell. Ratlos legte der Professor eine Hand auf ihre Schulter.

„Was ist los, Ai? Was hat Masumi gesagt?"

Schließlich erwiderte Ai mit zitternder Stimme: „Sie… sie hat es herausgefunden, Professor. Sie weiß, wer ich wirklich bin."

Professor Agasa spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror.

„Was? Wie kann das sein? Wie hat sie es herausgefunden?"

Ai zögerte, bevor sie antwortete.

„Sie hat mich gerade eben angesprochen und… ich weiß nicht, wie sie es wusste, aber sie hat meinen Namen gesagt. Meinen richtigen Namen."

Der Professor konnte es kaum glauben. Masumi hatte den wahren Namen von Ai herausgefunden? Aber wie war das möglich? Wie konnte eine Oberschülerin wie Masumi, die mit ihr kaum Zeit verbracht hatte, etwas so tief Verborgenes wissen?

„Das ergibt keinen Sinn.", murmelte er vor sich hin.

Ai schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es auch nicht, Professor. Aber ich glaube, Masumi hat noch mehr Geheimnisse, als wir dachten."

Der Professor nickte. Er hatte das Gefühl, dass dies nur der Anfang von etwas viel Größerem war. Eine unheimliche Ahnung beschlich ihn, als er daran dachte, was Masumi noch alles wusste oder herausfinden könnte.

„Wir müssen in Zukunft vorsichtiger sein. Wir dürfen ihr nicht zu viel verraten."

Ai sank zu Boden und hielt sich an die Stirn.

Der Professor seufzte. Es war schwer genug, die Identität von Ayumi zu wahren, aber jetzt mussten sie auch noch aufpassen, dass Masumi ihre Geheimnisse nicht aufdeckte.

„Wir müssen uns auf alles vorbereiten. Wer weiß, was noch auf uns zu kommen wird.", murmelte er entschlossen.

– Kapitel 21 ENDE –