Brief von Maria an Max Dettweiler

„Lieber Max,

, wie geht es dir? Wir haben dir ein Telegramm geschickt, um dir mitzuteilen, dass wir gut in Amerika angekommen sind. Dank Luigi und Rosa haben wir ein Dach über dem Kopf, zwei Zimmer, besser als gar nichts. Das Klo befindet sich am Gang und wir müssen es mit mehreren Familien teilen, die auch hier auf der Etage wohnen.

Georg hat Luigi damals im Krieg das Leben gerettet und Luigi hat ihm daraufhin „ewige Dankbarkeit" geschworen. Luigi hat zuerst in Südtirol gelebt, ist jedoch vor einigen Jahren gemeinsam mit seiner Frau Rosa, aufgrund der unsicheren politischen Situation nach Amerika ausgewandert. Luigi arbeitet als Schuhputzer in einem großen Hotel und hat einen sehr guten Kontakt zu dem Besitzer. Daher dürfen wir, für einige Wochen oder Monate, mietfrei in einem Nebengebäude des Hotels wohnen. Ich bin sehr erleichtert darüber. Was wir schon alles erlebt haben.

In Ellis Island hat man uns streng kontrolliert und wir hätten fast dort bleiben müssen. Doch Luigi ist an diesem Tag vorbeigekommen, hat Georg erkannt und in einem wilden Gemisch aus Deutsch, Englisch und Italienisch begrüßt. Die Beamten dort haben es kaum fassen können. Um ehrlich zu sein, ich bin auch überrascht gewesen. Luigi ist ein sehr fröhlicher, optimistischer Mensch, was ihn mir sehr sympathisch macht. Seine Frau Rosa ist einen guten Kopf kleiner als ich, deutlich kräftiger und sehr energisch. Ich glaube, dass Luigi unter ihrem Pantoffel steht.

Ihr haben wir einen kleinen Schritt in die Zukunft zu verdanken, in dem die größeren Kinder bereits im Hotel arbeiten. Liesl als Küchenhilfe und Friedrich als Liftjunge. Louisa verdient ein paar Dollar als Küchenmädchen und Kurt geht Luigi als Schuhputzer zur Hand. Es gibt immer viel zu tun. Brigitta möchte auch gerne in der Küche mithelfen, doch es sind schon alle Plätze besetzt. Also hilft sie mir im Haushalt und kümmert sich um Marta und Gretl. Beide haben nach wie vor Heimweh, auch wenn sie tapfer sind, es sich nicht anmerken zu lassen. Brave, kleine Mädchen.

Ich bete jeden Tag zu Gott, dass wir alle gesund bleiben. Das Singen haben wir vorerst aufgegeben. Manchmal singen wir, jedoch nur für uns, nicht in der Öffentlichkeit. Georg will das nicht. „Was sollen die Leute von uns denken?"

Leider ist mein Mann noch sehr in den alten Denkmustern verhaftet. Ich knirsche mit den Zähnen, doch was bleibt mir anderes übrig.

Das Wetter wird von Woche zu Woche kühler. Die beiden Zimmer können nur schwer geheizt werden. Wir schlafen auf dünnen Matratzen, in schmutzige Bettwäsche eingewickelt. Doch besser als gar nichts. Georg und Luigi rauchen beide ihre Pfeife, jedoch immer nur draußen im Hof, aus Rücksicht auf Rosa und auf mich. Friedrich möchte auch gerne rauchen, aber Georg hat ihm das streng verboten.

Georg liest jeden Tag die Zeitung, studiert vor allem die Stellenangebote, aber es ist nicht passendes dabei. Wer nimmt schon einen Herren im vorgerückten Alter? Ich muss Georg oft Mut machen, wenn er verzagt ist und nicht mehr weiter weiß. Immerhin sind die Kinder da, die arbeiten gehen. Sie wollen es durchaus. In Europa haben sie das Arbeiten nicht nötig gehabt, da immer Personal vorhanden gewesen ist, bis Georg 1929 nach dem Börsenkrach fast sein ganzes Geld verloren hat. Nur eine Köchin und ein Hausmädchen sind dann noch im Dienst geblieben.

Warum bist du nicht mit uns gekommen? Georg hätte dir bestimmt einen Platz auf dem Schiff ermöglicht, da bin ich mir ganz sicher. Hast du noch Kontakt zu Elsa Schraeder? Wenn ja, wie geht es ihr?

Du findest es seltsam, dass ich nach ihr frage? Um ehrlich zu sein, ist es nicht meine Idee gewesen, sondern Georg hat mich dazu angeregt. Ob er noch immer etwas für Elsa Schraeder empfindet? Oder ist sie ihm inzwischen gleichgültig geworden? Vielleicht fragt Georg nur aus reiner Höflichkeit nach ihr? Das wäre auch eine Option. Ich weiß nicht, wie eng sein Kontakt zu Fräulein Schraeder wirklich gewesen ist.

Entschuldige bitte, dass ich so klein schreibe, doch ich muss Papier sparen. Das Papier haben die Kinder bezahlt und dafür einen ganzen Wochenlohn geopfert. Ich bin so dankbar, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Wer hätte das noch vor einem halben Jahr gedacht, in großem Luxus lebend. Und nun trage ich abgelegte Hosen von Georg, in meine Kleider passe ich kaum noch hinein. Hoffentlich werden es nicht Zwillinge. Das Baby nimmt sich alles, was es von mir braucht. An manchen Tagen bin ich so müde, dass ich kaum vor die Türe gehen kann, aber ich bewahre Haltung, wie Georg es nennt. Was wäre ich für ein Vorbild, wenn ich nur daliege und weine? Das würden mir die Kinder nie verzeihen. Sie sollen mich nicht schwach sehen, sondern stark und mutig. Ich muss kämpfen, so gut es eben möglich ist.

Wenn wir uns doch nur ein Radio leisten könnten, um über die politische Lage auf dem laufendem zu sein. Aber das ist zu teuer. Gelegentlich lässt jemand in einer Nachbarwohnungen ein Radio laufen. Es erklingt englische Musik, gefolgt von Nachrichten und dem Wetterbericht. Inzwischen kann ich soweit englisch, dass ich die Einkäufe von Brot, Milch und Obst selbständig erledigen darf, ohne schief angesehen zu werden. In ihrer Freizeit bringt Liesl uns, das heißt den jüngeren Kindern und Georg und mir englisch bei. Friedrich hat dafür keine Geduld, wie er selbst meint. Er steckt in den Flegeljahren, da ist so ein Verhalten nachvollziehbar.

Manchmal kommt es vor, dass sich die Kinder streiten, leider auch lautstark. Ich kann sie irgendwie verstehen. Wir haben wenig Platz, die Luft ist schlecht und die Zukunft unsicher. Wir können nicht auf die Dauer hier bleiben, womit nicht nur die zwei Zimmer gemeint sind. Die Visa sind auf ein halbes Jahr befristet. Wir müssen uns daher anpassen, um darauf hoffen zu können, auch im nächsten Jahr hier zu bleiben. Luigi meint, es sei alles nur halb so schlimm und er hat damals auch mit einem Besuchervisum angefangen. Inzwischen dürfen Rosa und Luigi für immer hierbleiben und haben schon einen Antrag auf die amerikanische Staatsbürgerschaft gestellt. Davon können wir nur zu träumen, weil der Antrag viel zu teuer ist.

Georg redet mit Luigi ab und zu italienisch. Davon verstehe ich kein Wort. Der Mimik und den Gesten entnehme ich, dass es nicht nur gute Themen sind: Vielleicht sprechen die beiden Herren über den Krieg? Oder über die Zukunft?

Luigi und Rosa sind verheiratet, haben keine Kinder und bekommen auch vermutlich keine mehr. Das hat mir Georg einmal, unter vier Augen, erzählt. Behalte es bitte für dich. In Zeiten wie diesen kann man kaum jemandem vertrauen. Außer auf Gott. Doch der hat soviel zu tun, wenn jeder ein Anliegen an ihn richtet, dass er uns, gerade in Zeiten wie diesen, kaum helfen wird. Ich habe den Weg zu Gott erst viel später gefunden, durch das Leben im Kloster. Zuvor bin ich nicht besonders off in die Kirche gegangen und habe eher sorglos in den Tag hineingelebt. Ob das hier alles eine Art Prüfung Gottes für mich ist? Was meinst du dazu? Ich bin einfach nur ratlos.

Am liebsten würde ich auf dem Land in einem großen Haus leben und die Felder selbst bewirtschaften, doch wie sollen wir das bewerkstelligen? Ein Fahrt mit dem Bus ist zu teuer. Ein Auto noch mehr. Luigi hat zwar ein Auto, doch er kann immer nur einige Familienmitglieder darin mitnehmen. Für die ganze Familie reicht der Platz nicht aus. Wenn wir nur das Auto aus Europa noch hätten. Doch es ist mühsam, daran zu denken. Georg hat es gerade noch rechtzeitig verkauft. Sonst wäre die Überfahrt nach Amerika nur schwer möglich gewesen.

Steht die Villa Trapp noch? Wenn ja, wer wohnt darin? Was ist aus dem großen Garten geworden? Kümmert sich jemand darum? Oder verfällt alles?

Diese Fragen kommen vor allem von den Kindern, die sich recht gut daran erinnern können, immerhin haben sie viele Jahre dort gelebt, zumindest nehme ich das an.

Georg redet nur wenig über früher, sei es aus Rücksicht auf die Kinder oder weil er vieles vergessen oder verdrängt hat? Ich weiß es nicht.

Die Küche hier ist grausam. Was gäbe ich alles für einen Apfelstrudel oder eine Schinkensemmel, am besten frisch zubereitet. Stattdessen trieft hier alles vor Fett und Öl. Die schnelle Küche ist zwar sättigend, jedoch nur für einen Augenblick. Schon ein paar Minuten später, nach dem ich meine Portion vertilgt habe, knurrt mein Magen wieder. Was soll ich nur dagegen unternehmen?

Die Kinder stört das Essen keineswegs. Sie sind neugierig auf alle Gerichte. Georg meint, er habe wenige Zähne, daher seien die weichen Burger genau das richtige. Das Obst ist längst nicht mehr frisch, wenn ich es im Laden einkaufe. Oder kommt es mir nur so vor, wenn ich es mit dem Obst aus Europa vergleiche?

Ich sitze zwischen allen Stühlen und bin hin- und hergerissen zwischen der Alten Heimat und der Neuen Heimat. Werde ich je wieder irgendwo Fuß fassen können? Bitte schreib mir zurück, auch wenn es nur wenige Zeilen sind, damit ich weiß, dass es wenigstens dir gut geht. Oder bist du vielleicht schon eingerückt? Auch das wäre eine Möglichkeit. Daran habe ich nicht gedacht. Was für ein schrecklicher Gedanke.

Ich weiß nur wenig über dich. Warum ich gerade dir schreibe? Weil ich sonst kaum jemanden habe, dem ich schreiben kann. Die Nonnen leben fast von der Welt abgeschieden im Kloster und haben keine Muse um zu schreiben. Ganz ehrlich: Ich glaube, sie sind froh darüber, dass ich nicht mehr im Kloster bin, weil doch einiges angestellt habe. Das Kloster ist wohl doch der verkehrte Ort für mich gewesen. Dabei habe ich mein bestes gegeben, um vielleicht eines Tages dazugehören zu können.

Meine Liebe zu Georg oder soll ich eigentlich zu den Kindern sagen, ist stärker als der Drang in Ruhe und Stille zu leben. Die Kinder brauchen mich sehr, viel mehr als jeder andere sonst. Es tut gut, gebraucht zu werden. Früher habe ich das nie so empfunden. Doch jetzt wird mir richtig warm ums Herz, wenn die Kinder auf mich zukommen, wenn sie Trost und Hilfe brauchen. Ich habe soviel Liebe zu geben. Und ein wenig Angst davor, wenn das Baby auf der Welt ist. Nicht, dass ich es den Großen gegenüber bevorzuge oder vernachlässige. Ich bin so unsicher. Georg meint, dass ich mir darüber zuviele Gedanken mache.

Wenn das Baby ein Mädchen wird, soll es den Namen Anna, nach Georgs erster Frau bekommen. Wenn das Baby ein Junge wird, soll es den Namen Max, nach dir bekommen. Georg schätzt dich sehr, wie einen Bruder, den er nie gehabt hat. Daher ist Georg auch auf die Anregung gekommen, dass ich dir schreiben soll. Ein Telephon gibt es zwar, doch das für uns viel zu teuer. Immer das liebe Geld.

Die Kinder schmieden Pläne für die Zukunft, was sie alles einmal machen wollen, wenn sie richtig viel Geld verdienen. Zur Schule sind sie nie gegangen, sondern von einem Hauslehrer unterrichtet worden. Das hat mir Liesl einmal erzählt. Sie ist, verglichen mit Brigitta zum Beispiel, eher ruhig und nachdenklich, macht sich deutlich mehr Sorgen um die Gegenwart, ohne zu sehr in der Vergangenheit zu leben. Wir unterhalten uns ab und zu in Ruhe, wenn die übrigen Kinder schon im Bett liegen, Rosa auf sie achtgibt, und Georg mit Luigi ein Bier in der Bar des Hotels trinkt.

Liesl und ich gehen dabei entweder spazieren, einmal mehr, einmal weniger weit, je nach dem, wie wir gerade Lust haben, oder wir sitzen, wenn das Wetter ungemütlich ist, in der Lobby des Hotels, eher am Rand, um die Gäste nicht zu stören. Im Kamin knistert ein Feuer, das mich träge macht. Liesl möchte gerne Alkohol trinken, doch sie darf es nicht, mit ihren fast 17 Jahren. Die Gesetze sind hier diesbezüglich sehr streng. Was geschehen würde, wenn sie übertreten werden, daran wage ich nicht einmal im Traum zu denken. Die Beamten sind viel strenger als in Europa.

Was wäre, wenn der Krieg länger dauert, so dass Friedrich und vielleicht auch Kurt eingezogen werden? Nicht einmal daran denken. Friedrich hat einmal gemeint, wer solle es ihm verbieten, wenn er alt dann genug ist. Trotz oder steckt doch mehr dahinter? Ich sage nichts dazu, das müssen Georg und die Buben unter sich ausmachen. Georg spricht nie über seine Erfahrungen im vorigen Krieg. Es muss schrecklich sein zu sehen, wie Kameraden andere Soldaten umbringen, die ihnen nie etwas getan haben, oder neben einem sterben, weil man ihnen nicht helfen kann. Die Verletzungen sind zu stark und es fehlt an Material und Medikamenten.

Medikamente haben wir derzeit auch keine. Gar nicht auszudenken, wenn jemand krank wird oder sich verletzen sollte. Das Baby werde ich selbstverständlich „zu Hause" zur Welt bringen. In ein Krankenhaus bringen mich keine zehn Pferde. Dort ist alles viel zu ungemütlich. Außerdem sterben die Leute reihenweise dort. Eine Hebamme brauche ich nicht. Rosa meint, sie wird mir schon helfen, wie sie es oft in Europa in ihrer Familie getan hat, wenn jemand Hilfe gebraucht hat. Dafür bin ich ihr zu großem Dank verpflichtet. Wie kann ich das alles nur je wieder gut machen?

Auch nach vielen Jahren haben Luigi und Rosa einen Akzent, wenn sie englisch und italienisch reden. Luigi heißt eigentlich Ludwig, doch er hat seinen Namen damals italienisieren müssen, als Südtirol zu Italien gekommen ist. Rosa hat immer schon so geheißen und ist froh darüber, ihren Namen nicht geändert zu haben, da er sich in beiden Sprachen fehlerfrei aussprechen lässt, ohne sich die Zunge abzubrechen.

Aus den politischen Gründen sind weder Südtirol, noch Italien als Ziel für die Reise infrage gekommen. Man weiß nie, was morgen sein wird. Georg hat im vorigen Krieg viele Italiener gerettet und dafür eine Medaille oder eine andere Auszeichnung bekommen. Das finde ich sehr tapfer von Georg. Friedrich träumt davon, auch einmal ein tapferer Kriegsheld sein zu können und spricht fast täglich davon. Alle mahnenden Worte von Georg will Friedrich nicht hören oder nicht wahrhaben.

Wenn das nur gut geht. Erst einmal den kommenden Winter überstehen, dann sehen wir weiter. Bitte drücke uns die Daumen, dass wir für immer hier bleiben können.

Liebe Grüße, auch von Georg und den Kindern

Maria New York, den 09. 10. 1938