Hiding (2)

Rose

Schockiert weiteten sich meine Augen. Schneller als ich für möglich gehalten hatte, drehte ich mich zu Dimitri um.
Ein Schuss, ein verdammter Schuss in einer Schule. Und er klang nah! War Dimitri getroffen?
Aber als ich mich umgedreht hatte, sah ich wie Dimitri sich mit großen Augen zu mir um wandte. Sein Gesicht war leichenblass und auch seine Pupillen geweitet vor Entsetzten.
Hinter Dimitri hörten wir plötzlich Schreie und sahen ein paar Schüler laufen. Sie schrien, schubsten einander aus dem Weg und versuchten zum Ausgang zu gelangen. Wieder hörte man Schüsse.
Wie erstarrt blieb ich an Ort und Stelle stehen.
Ich glaube ich stand unter Schock, aber konnte ich mir das nicht erklären. Mein Kopf schrie mir zu zu laufen. Lauf weg, lauf, lauf weg!
Aber meine Beine reagierten nicht, sie waren wie angewurzelt und bewegten sich keinen Zentimeter. Ich war zuvor noch nie in einer Schockstarre gewesen und wusste nicht, wie ich mich daraus befreien konnte.
Überraschenderweise eilte Dimitri zu meiner Rettung.
„Rose", zischte er leise. „Komm schon."
Er packte meinen Arm und zerrte mich hinter sich her. Er joggte in den nächstgelegenen Klassenraum und drückte mich vor sich hinein. Dann ließ er meinen Arm wieder los und versuchte die Tür irgendwie zu verriegeln. Er stellte Tische und Stühle davor, alles, um das Eindringen nicht zu gewährleisten.
Keiner von uns traute sich einen Laut von sich zu geben. Draußen hörte man Schüler laufen, Schüler schreien und noch drei weitere Male das Abfeuern einer Waffe.
Mein Atem wurde flacher und ich spürte ein unangenehmes Ziehen in meiner Brust. Jemand hatte eine Waffe und schoss damit in der Schule.
„Rose?", fragte Dimitri leise.
Mit großen Augen sah ich auf und begegnete seinem Blick. Aber wer jetzt erwartet hätte so etwas wie Mitgefühl zu sehen, der täuschte sich. Stattdessen starrte er mich einen Moment emotionslos an, ehe er die Augen verdrehte und sich auf den Boden, direkt neben der Tür setzte.
In der Tür war ein Glasfenster. Man konnte zwar nicht klar durchsehen, sah aber Umrisse von Körpern, Licht und Schatten und so weiter. Also war der beste und sicherste Platz direkt neben der Tür.
Seufzend ließ ich mich neben ihn fallen. Ich winkelte die Beine an und schlang die Arme um die Knie.
„Beruhige dich", meinte Dimitri in einem lässigem Tonfall.
„Shh", fauchte ich ihn an.
Wieder verdrehte er die Augen und sah gelangweilt in die Gegend. Wie konnte er nur so verdammt ruhig bleiben. Realisierte er nicht, was da draußen los war? Dort war jemand, der mit einer Waffe schoss!
„Bleib locker. 'Wer auch immer' ist den Chemiegang runter gelaufen, also weit entfernt von uns", meinte Dimitri und ließ den Kopf gegen die Wand hinter sich fallen und atmete tief durch. Ich tat es ihm gleich, was das Atmen anging und versuchte mich zu beruhigen.
„Woher hast du die?", fragte Dimitri in die Stille hinein.
„Hmm?", fragte ich verwirrt.
„Die Kette", erläuterte er und nickte in Richtung meines Halses. „Die habe ich schon mal gesehen."
Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass ich mit einer Hand daran rumspielte. Das war eine alte Angewohnheit meinerseits. Immer wenn ich nervös oder ängstlich war, begann ich damit an meiner Kette herumzuspielen. Sie hatte eine Farbe von mattem Gold. Es war ein kleines Medaillon mit vielen Verzierungen und sah aus, als stamme es aus einer anderen Zeit. Daneben hing ein kleiner Schlüssel in derselben Farbe. Im Medaillon waren bereits zwei Bilder, die ich nie ersetzten würde.
„Lange Geschichte", wisperte ich gedankenverloren.
„Ich habe Zeit", bemerkte er und hob grinsend eine Augenbraue.
Er bemühte sich um einen lässigen Ton und ich glaube er versuchte sogar gelangweilt zu klingen, aber in seinen Augen sah ich echtes Interesse und Kuriosität.
Ich überlegte, ob ich ihm wirklich davon erzählen sollte. Aber was sollte ich schon tun? Außerdem würde es mich vielleicht ablenken und ich könnte für einen Moment länger verdrängen, dass ich mich in einem Klassenzimmer vor einem Amokläufer versteckte.
„Sie ist von meinem Bruder", flüsterte ich. „Er … Er ist in einer Klinik."
„Klinik?"
„Er war Soldat in Afghanistan, so wie mein Vater. Aber im Gegensatz zu meinem Vater, kam er als ein vollkommen anderer Mensch wieder. Er hat PTBS und zwar die schlimmste aller Formen. Anfangs dachten wir es wäre vollkommen normal. Er begann immer mehr zu trinken, zu rauchen." Ich seufzte. „Schließlich sorgte mein Vater dafür, dass er eingewiesen wurde. Es geht ihm besser, aber er braucht Zeit. Die Kette hat er mir an dem Tag geschenkt, an dem er eingewiesen wurde. Er sagte 'Ich bin kaputt, kleine Schwester' und ging. Mit der Kette hat es irgendetwas auf sich, irgendetwas das er mir nicht gesagt hat. Alles was ich weiß ist, dass er sie mal von einer Fremden erhalten hat."
Eines der Fotos in meinem Medaillon zeigte diese fremde Frau, als sie Anfang zwanzig war. Mehr wusste ich nicht über sie.
„Wie heißt dein Bruder?"
Wieder fühlte ich das kalte Material unter meinen Fingern. Ich strich immer wieder darüber und dachte an meinen Bruder und die fremde Frau. Anfangs hatte ich die Kette nicht tragen wollen, aus Angst sie zu verlieren, aber mein Vater hatte mich dazu überredet.
„Adrian", erwiderte ich niedergeschlagen.
Sobald ich die Schule verlassen konnte, würde ich Adrian besuchen. Das nahm ich mir in diesem Moment fest vor.
„Du solltest gut darauf aufpassen", bemerkte Dimitri.
Ich hatte schon fast vergessen, dass er neben mir saß. Er sah mich nicht an, sondern starrte auf die Wand uns gegenüber. Was hatte ich auch erwartet? Seufzend ließ ich den Kopf gegen die Wand fallen.